Mein lieber Herr Kappus,
Sie sollen nicht ohne einen Gruß von mir sein, wenn es Weihnachten wird und wenn Sie, inmitten des Festes, Ihrer Einsamkeit schwerer tragen als sonst. Aber wenn Sie dann merken, daß sie groß ist, so freuen Sie sich dessen; denn was ( so fragen Sei sich) wäre eine Einsamkeit, welche nicht Größe hätte; es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und nicht leicht zu tragen, und es kommen fast alle die Stunden, da sie sie gerne vertauschen möchten gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächstbesten, mit dem Unwürdigsten …
Aber das darf Sie nicht irre machen. Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit große innere Einsamkeit, In,-sich Gehen und stundenlang niemand begegnen, – das muss man erreichen können. Einsam sein ,wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftig aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff…….Warum eines Kindes weises Nicht-Verstehen vertauschen wollen gegen Abwehr und Verachtung, da doch Nicht-Verstehen Alleinsein ist, Abwehr und Verachtung aber Teilnahme an dem, wovon man sich mit diesen Mitteln scheiden will.
Denken Sie lieber Herr, an die Welt, die Sie in sich tragen und nennen Sie dieses Denken, wie Sie wollen; mag es Erinnerung an die eigenen Kindheit sein oder Sehnsucht zur eigenen Zukunft hin, ,,, und seien Sie froh und getrost Ihr
Rainer Maria Rilke
Rom 23.Dezember 1903